Ausgabe: Juli 2018
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Das UND-Prinzip leben: "Das UND ist immer die anstrengende, die herausfordernde Mitte."

Bischof Hermann Glettler (Innsbruck) im Interview mit Oliver Schippers 


Wie leben Menschen das UND-Prinzip? Für den newsletter NGE fragen wir nach, was es bedeutet "zu salzen und zu leuchten, um die Welt auf den Geschmack Gottes zu bringen"

Hermann Glettler, seit Dezember 2017 Bischof in Innsbruck, bin ich zum ersten Mal vor ca. zwei Jahren auf einer Tagung für Gemeindeinnovation begegnet. Seitdem sprechen wir uns in einem respektvollen „Du“ an, dass wir auch in diesem Interview beibehalten.

O: Als wir uns das erste Mal getroffen haben, fielen die Begriffe „Caritas“ und „Kunst“. In dem Buch „Die fremde Gestalt Jesu“, das Du gemeinsam mit Michael Lehofer veröffentlicht hast, wirst Du als „Bischof“ und „Künstler“ beschrieben. Zeichnet Dich das UND als Person aus?

+Hermann: Ja, dieses UND begleitet mich schon lange. Es ist die Verbindung zwischen meiner Berufung als Theologe, Priester, Seelsorger und jener eines Künstlers, obwohl sich meine künstlerische Arbeit aufgrund der begrenzten zeitlichen Ressourcen sehr in Grenzen hält. Es sind tatsächlich zwei verschiedene Welten, in die ich hineinwachsen durfte. Es hat mir niemand aufgetragen, beides zu verbinden – die Herausforderungen zeitgenössischer Kunst und jene eines geweihten Amtsträgers. Aber es gelingt einigermaßen, beides zusammenzuhalten und ich fühle mich dabei wohl in meiner Haut. Es sind zwei intensive Zugänge zum Leben, die sich sehr schön befruchten. Ich möchte in beiden Bereichen zu Hause sein, auch wenn sie sehr divergierend sein können.

O: Erlebst Du in der Gesellschaft in den aktuellen Debatten ein UND oder eine starke gesellschaftspolitische Polarisation? Ist Toleranz für die Mehrheitsbevölkerung ein starker Wert?

+Hermann: Es ist schwer, dies allgemein zu beantworten. Durch das breit angelegte Amt habe ich als Bischof das Glück, mit unterschiedlichen Personen in deren Arbeit und Lebensumfeld zusammenzukommen. Ich beobachte dabei ein hohes Maß an sozialer Aufgeschlossenheit, aber auch ein bedenkliches Maß an Ängsten. Nicht selten übernehmen sie die Steuerung für konkretes Verhalten. Es fehlt in unserer nervösen Zeit meist an Geduld, sich wirklich auf Argumente einzulassen. Ideologische Nischen und Milieus prägen Meinungen und die entsprechenden Verhaltensweisen. Auch die sogenannten Sozialen Medien verstärken diese Tendenz. Es bilden sich Nischen, bzw. Meinungsblasen, die immer nur von ähnlichen Meinungen erreicht und damit bestätigt werden. Das UND braucht wahnsinnig viel Geduld. Toleranz lässt sich leicht als Wert beschwören, aber sie in die Tat umzusetzen, setzt ein hohes Maß an Interesse für den Anderen und auch Belastbarkeit voraus. Leider erleben wir immer öfter erschütternde Beispiele einer Verrohung von Sprache. Die Schwelle, sich zu menschenverachtenden Aussagen über „die Ausländer“ oder „die Sozialschmarotzer“ hinreißen zu lassen, ist sehr niedrig geworden. Trotz dieser negativen Tendenzen gibt es meiner Meinung nach aber immer noch einen gewissen Grundwasserspiegel von Respekt und Toleranz. Ich bleibe zuversichtlich.

O: Als wir unsere Charta formulierten, dachte ich, dass wir uns mit dem UND in einem Mainstream bewegen, dass Vieles davon gesellschaftliche Normalität ist. Das war vor zwei Jahren. Jetzt begegnet mir viel Polarisierung und Abgrenzung.

+Hermann: Ich muss das leider bestätigen. Abgrenzung wird momentan im politischen Diskurs tatsächlich als Allheilmittel verkauft. Sehr bedenklich. Die Betonung des UND jedoch berührt mich, weil es eine „angestrengte Mitte“ bezeichnet. Man kann sich leicht auf eine Seite festlegen und eine andere Perspektive vernachlässigen. Das gilt im Politischen, aber auch in anderen Bereichen, wenn z.B. „Tradition“ und „Innovation“ gegeneinander ausgespielt werden. Manche in unserer Kirche meinen, dass die Tradition der alleinseligmachende Hebel ist, um Probleme zu lösen. Längerfristig wird das in die Erstarrung führen. Andere, meist liberale Kräfte meinen, dass alle Karten auf Fortschritt zu setzen sind. Auch das ist einseitig. Das UND ist immer die anstrengende, die herausfordernde Mitte. Leichter wäre es, sich auf eine Seite zu schlagen. Die Mitte ist der aufregende, keineswegs entspannte Ort. Mein ehemaliger Bischof Egon Kapellari hat in einer tiefgründigen Meditation einmal „die Mitte“ als den entscheidenden Christus-Ort benannt. Christus hat seine Hände ausgebreitet, um Menschen zusammenzuführen und in die Gemeinschaft einzubinden. Er hat die höchste Aggression ausgehalten, die Zerrissenheit des Menschen und der Welt insgesamt. Er hat als Figur der Mitte Einheit gestiftet.

O: Das UND ist also mehr als die kleinste Schnittmenge unterschiedlicher Positionen, oder?

+Hermann: Eine kleine Schnittmenge, bzw. der kleinste gemeinsame Nenner ist als Zielvorgabe für ein gelingendes Zusammenleben nicht gerade ein großer Anreiz. Viel spannender ist es doch, 100% von dem einen und 100% von dem anderen zusammenzubringen. Ein Beispiel? Für das Gelingen eines multikulturellen Zusammenlebens ist die kulturelle und religiöse Eigenständigkeit der unterschiedlichen ethnischen Gruppen zu erhalten und zugleich die Betonung der Integration in ein größeres Ganzes absolut notwendig. In unserer Christologie gilt auch dieses Prinzip – 100% Mensch und 100% Gott. Hundert-Hundert und nicht Fünfzig-Fünfzig. Sorry für diesen theologischen Schwenk. Ich meine: Pluralität UND Einheit, Gemeinschaft UND Individuum.

O: Aber Menschen suchen doch einfache Formeln für das Zusammenleben, auch einfache Formen von Gemeinde. Was Du beschreibst, also das Aushalten und Kultivieren von Pluralität, ist doch pure Überforderung?

+Hermann: Jeder Bereich in unserer Gesellschaft, in den man hineinschaut, ob das die Arbeitswelt, die Wirtschaft oder der Tourismus, ist sehr komplex. Um Situationen richtig zu bewerten, sind immer viele Faktoren zu beachten, d.h. der Wunsch nach Vereinfachung ist verständlich. Es braucht, wie schon gesagt, den Mut und die innere Kraft, das Unterschiedliche synthetisch zusammenzuhalten. Das UND zu sehen und zu leben, ist nicht einfach. Das UND zeichnet für mich auch eine gute Predigt aus. Sie ist eine verantwortbare Vereinfachung inmitten einer unüberschaubaren Vielfalt von Meinungen und Informationen. Die Predigt vermittelt zwischen dem Wort Gottes und den Alltagsanforderungen, die jeder von uns zu bewältigen hat. Die Predigt benennt die Spannung, die umkämpfte Mitte, von der aus alles einen Sinn ergibt und sich befruchtend auf das Leben auswirkt. Eine gute Predigt ist mit Sicherheit nicht die Anhäufung von frommen Worten, sondern eine Synthese von göttlichem Wort und den existentiellen Fragestellungen der Gläubigen.

 O: Erlebst du, dass Menschen durch Deinen Dienst, durch Deine Predigten ermutigt werden, sich dieser Komplexität zu stellen und ihr Leben in dieser anspruchsvollen Balance zu gestalten?

+Hermann: Teilweise schon, natürlich nicht in jeder Predigt. Aber manchmal habe ich den Eindruck, dass ich es geschafft habe, die Zusammenschau zu vermitteln. Meist dann, wenn es gelingt, gemeinsam auf Christus zu blicken. In ihm kommt die Mitte zum Tragen. Er ist das UND in Person – zwischen uns und Gott, zwischen Himmel und Erde. Wenn man von Christus ausgehend eine Deutung der Welt und des Menschen versucht, lernt man Komplexität und Pluralität wahrzunehmen und auszuhalten. Dieser Blick motiviert zur Einheit, nicht zur Vereinheitlichung. Und er verhindert eine lebensbedrohliche Zerstreuung. Jesus ist die lebendige Mitte von allem. Für mich trägt der christliche Glaube beides in sich: einerseits die Sicht auf das Individuum, das wahrgenommen und wertgeschätzt werden will, und anderseits die Gemeinschaft – die Einbindung in ein größeres Wir. Letztlich kann man diese Grundstruktur zurückführen auf den Ursprung von alle, auf den Dreifaltigen Gott, an den wir durch die Offenbarung von Jesus glauben dürfen. In ihm sind Vielfalt und Einheit, die Gemeinschaft und das Individuum gleich ursprünglich. Ist das nicht aufregend?

O: Vieles klingt theoretisch ganz toll, aber ich erlebe in unseren Gemeinden nicht selten Menschen, die Sicherheit suchen und komplexe Zusammenhänge gefährlich vereinfachen. Gerade mit dem „Fremden“ und „Unbekannten“ wird das Leben ja nicht geteilt. Gemeinde ist für viele nur ein Schutzraum, nicht selten auch ein Ort des Ausschließens.

+Hermann: Natürlich kenne ich auch Gemeinden, die sich abschließen und sich selbst genügen. Oder solche, die zu einem superfrommen Verein verkommen sind und nicht mehr für die Bevölkerung ihrer Umgebung anschlussfähig sind. Schade! Mein Ansatz von Evangelisation bedeutet, dass man sich in die Gesellschaft hineinbegibt, das Leben mit den konkreten Menschen dieses Ortes, dieses Stadtteils teilt. Nachbarschaft damit ernst nimmt. Einige Gemeinden entdecken dies als belebend und stimulierend für ihre eigentliche Berufung. Es sind Gemeinden, die sich in ihrer konkreten Umgebung als Gemeinschaft von Gläubigen verstehen. Sie leben für das UND, das im Evangelium grundgelegt ist. Sie sind mit dem lebendigen UND in der Jesus-Nachfolge.

O: Steht deine Sicht und Vision im Gegensatz zu dem, was man gerade auch in Österreich als politisch mehrheitsfähig wahrnimmt, insbesondere im Umgang mit Fremden und Flüchtlingen?

+Hermann: Als Bischof muss ich nicht auf die Übereinstimmung mit politischen Meinungen schielen, die mehrheitsfähig sind. Wichtig ist zu fragen, wie der Auftrag Gottes für unsere heutige Zeit lautet, und was er uns mit Millionen von Menschen, die ihre Heimat verloren haben, sagen will. Eine Welt, die offensichtlich in Bewegung geraten ist, ist ein Auftrag, der uns nicht kalt lassen kann. Ich habe auf einer Einführung für Pfarrgemeinderäte gefragt, wen meinen wir, wenn wir „Wir“ sagen? Ist das exklusiv, nur diese kleine Gemeinde – kirchlich oder politisch? Wer ist dieses propagierte WIR, wen schließt es ein und wen schließt es aus? Wer ist „das Volk“ und wer ist „die Gemeinde“? Wenn man von der Meinung des Volkes spricht, dann stehen gewisse Menschen, bzw. gewisse Gruppen mit Sicherheit an der Seite. Sie werden an den Rand gedrängt und marginalisiert. Wir sind diesbezüglich momentan in Österreich politisch sehr gefährdet.

O: Wie sieht dies im Menschen Hermann Glettler aus? Diese Offenheit, dieser Wunsch, die Dinge in radikaler Balance zu sehen – alles nachvollziehbar. Aber gibt es da nicht auch ab und an eine Stimme, die flüstert, „ich möchte es etwas einfacher haben“, „die Gegensätze nicht ganz so lieben“? Oder ist „Gegensätze lieben lernen“ in dir als Gen angelegt?

+Hermann: Ich muss sagen, dass ich zum Glück Vielfalt in seiner unterschiedlichen Konkretisierung bisher in meinem Leben als Bereicherung erlebt habe, nicht als Bedrohung. Eine grundsätzliche Haltung der Neugierde und Offenheit gegenüber Fremdem und Neuem habe ich speziell von meinem Vater mitbekommen.

O: Kannst Du ihn kurz beschreiben?

+Hermann: Mein Vater ist Landwirt und war im Nebenerwerb zuerst Elektroinstallateur und dann Lokführer bei der Steiermärkischen Landesbahn. Er hat unseren Bauernhof mit vielen innovativen Ideen aufgebaut. Ich erinnere mich als Kind an viele Besuche, die kamen, um sich diese oder jene Neuerung anzuschauen. Zusätzlich dazu hat mein Vater ein unglaubliches Charisma, mit Menschen ins Gespräch zu kommen und Beziehungen aufzubauen. Außerdem ein gutes Gespür, wenn Vorurteile tonangebend werden. Als Beispiel fällt mir eine Begebenheit einer Landesaustellung ein. Im letzten Raum des Rundgangs gab es eine zeitgenössische Kunstinstallation. Innerhalb der Gruppe, die die Führung mitgemacht hat, gab es die typische Aufregung: „Was soll dieser Unsinn? Typisch Künstler …“ Da stellte sich mein Vater hin und sagte: „Nun seid‘s aber mal ruhig. Keiner von euch weiß, was sich der Künstler gedacht hat und ihr redet so negativ daher. Das ist ja unerhört! Jetzt schaun wir uns das einmal an und dann können wir reden“. Das fand ich toll und zeigt ihn so typisch. Mein Bruder ist auch Bildender Künstler geworden, obwohl eine sogenannte „gehobene Kultur“ bei uns zuhause nicht vorgekommen ist. Wie gesagt, einfacher Bauernhof. Wir hatten weder anspruchsvolle Bilder, noch Literatur noch Musik. Wir hatten eine schöne bäuerliche Lebenskultur, das schon! Offensichtlich wurde damit ein hohes Maß an Neugierde und Lust für kulturelles Gestalten grundgelegt. Also für mich auf den Punkt gebracht: Es freut und bereichert mich, wenn ich Vielfalt erlebe, ganz gleich in welchem Bereich. Aus diesem Grund besuche ich auch gerne sehr große Städte. Ich genieße diese unüberschaubare Komplexität urbaner Lebensverhältnisse. Ich mag auch das Chaotische. Aber ich verstehe, dass dies nicht alle so sehen.

O: Das bedeutet, es überfordert schon ab und an die Leute, die es mit dir zu tun haben.

+Hermann: Schon, ja. (lacht)

O: Schaffst du es dann als ihr Vorgesetzter, wieder zu einen oder ist für dich Überforderung ein legitimes Mittel?

+Hermann: Gewisse Überforderungen sind sehr hilfreich. Es gehört zu einem guten Leiter, immer wieder angemessen zu überfordern. Dabei ist Vertrauen sehr wichtig und die Mitteilung, worum es geht – also immer wieder die eigentliche Intention miteinander teilen. Dadurch wächst Vertrauen und die Menschen beteiligen sich. Die Überforderung stimuliert Wachstum, es wird nicht banal. Ich habe dies als Pfarrer erlebt. Wir haben uns sehr konsequent auf zeitgenössische Kunst eingelassen. Die Pfarrleute und speziell die mit mir Verantwortlichen wussten, dass ich die Kirche öffnen will für zeitgenössische Kulturschaffende. Sie sollten ihre Arbeit einbringen, bzw. ihr Statement geben können, auch wenn dies scheinbar gar nicht zu uns passt. Dieser Prozess einer radikalen Öffnung für das Nicht-Vertraute ist fruchtbar geworden. Mit der Zeit haben es viele mitgetragen. Auch wenn einige durch die Kunst-Projekte verschreckt wurden, viele waren dankbar.

O: Am Ende unserer Zeit möchte ich fragen, ob es etwas gibt, das du uns als NGE sagen würdest? Wir wollen das UND als Prinzip verstehen, trinitarisch ausgerichtet unseren Glauben mit Kopf, Herz und Hand ausdrücken. Nun sind wir eine Bewegung, die Gemeinden und Kirchen unterschiedlichster Prägung dient. Da müssen wir eher das Verbindende beschreiben, weniger das Abgrenzende.

+Hermann: Diese Herangehensweise mit dem UND ist mir sehr sympathisch – auch weil das bewusste UND urkatholisch ist, nicht im konfessionellen Sinn natürlich. Von Hans Urs von Balthasar gibt es eine kleine, wichtige Schrift mit dem Titel „Die Wahrheit ist symphonisch“. Es geht immer um das große UND zwischen Himmel und Erde, Gott und die Welt – diese spannungsreiche Synthese ist uns in Christus geschenkt. Davon leben wir. Das Kreuz Jesu lässt sich in diesem Sinn auch als versöhnendes UND betrachten – horizontal und vertikal.

O: Herzlichen Dank für Deine Offenheit und sehr persönlichen Antworten.


"Klar Farbe bekennen und damit auch die Freude einer tieferen Christusgemeinschaft entdecken, das braucht es."
 
 


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PROZESS


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FOKUS

Herausgeber:
Verein für Natürliche Gemeindeentwicklung e.V. 

Geschäftsstelle:
Bärner  Str. 12, 35394 Gießen
E-Mail:
buero@nge-verein.de

ViSdPR: Pfn. Birgit  Dierks (Vorstand)

Bildnachweis:

Bischof Glettler mit Skulptur: © Martin Behr/Salzburger Nachrichten

Portraitbilder 2-3: © Diözese Innsbruck/Aichner

Portraitbild 4: CC BY 2.0
@ Priesterseminar Diözese Graz-Seckau

Icons: © Aaltje Wagner/NGE-D

weitere Bilder: sebst erstellt oder Bilder der Website unsplash.com

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