zur Ausgabe 01-2017
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Das UND-Prinzip: Reich-Gottes-Denken für die junge Generation 

Martin Bühlmann im Interview mit Oliver Schippers


Wie leben Menschen das UND-Prinzip? Wir haben nachgefragt bei Martin Bühlmann, Leiter der Vineyardbewegung in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Was ist dein erster Eindruck, wenn Du die Charta „Das UND-Prinzip“ Dir anschaust?

Das ist ganz cool, das könnte ich sofort unterschreiben. Was wir hier tun, passt total hinein, das ist beängstigend, das ist super! Das ist der Hammer!
Mir gefällt auch der Gedanke, Kopf, Herz, Hand! Wow.
 
Könntest Du in Worte bringen, was Dich begeistert, wie Dich das UND inspiriert und herausfordert?
 
Die Charta der NGE setzt sich mit dem Gedanken auseinander, wie Gemeinde in den nächsten 20 Jahren aussehen kann. Worauf müssen wir achten? Wie entwickelt sich die junge Generation?

Die Charta bringt die Wirklichkeit der kommenden Generation mit der Wahrheit des Wortes Gottes zusammen. Sie beinhaltet nicht einen pragmatischen Ansatz, wie wir die kommenden Generationen erreichen, sondern wie kann Reich-Gottes-Denken – das Denken der Herrschaft Jesu in dieser Welt, das Denken, dass das Reich Gottes bereits begonnen hat –  praktische Auswirkungen auf das Leben der Gemeinschaft von Christen haben.

Die Charta erinnert mich, wie Gott in dieser Welt wirkt. Ich bin erinnert an Zinzendorf ( Anm. d. Red.: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, 1700-1760), der von einer Hinwendung zu Christus, zur Gemeinschaft und zum Dienst spricht. Wenn ich in der Charta lese „Gott bewegt uns, Glauben mit Kopf, Herz und Hand auszudrücken“, dann hat dies etwas mit dieser dreifachen Hinwendung zu tun. Auf diesen drei Gedanken - Hinwendung zu Gottes Herrschaft, zueinander und zum Dienst - steht die Charta. Die Charta geht davon aus, dass Gott Menschen bewegt, ihnen begegnet; nicht nur einigen wenigen, sondern den vielen, die IHM ihr Herz öffnen. Die Charta ermutigt zur intuitiven Wahrnehmung Gottes: dabei nicht in der Theorie stecken zu bleiben, sondern sich in dieser Welt zu engagieren. In der Charta wird das Ringen deutlich, dass Gemeinde nicht Selbstzweck ist, nicht die Hilfeleistung etwas gesunder und heiliger in den Himmel zu kommen, sondern zu wissen, wir sind als christliche Gemeinschaft in die Welt hinein berufen. Dieses Berufensein in die Welt ist der eigentliche Zweck unseres Daseins.
 
Veränderung: Vitalität fördern; Qualität: Gutes in die Welt bringen; Vielfalt: kreative Lösungen finden; Prozess: Entwicklung nahhaltig fördern; Balance: Spannungen produktiv nutzen; Fokus: auf den Punkt kommen – sind dies Themenbereiche, die es konkreter werden lassen?
 

Für mich sind diese sechs Themenblöcke Ausdrücke, wie das Reich Gottes im Herzen jedes Christenmenschen in dieser Welt neu Gestalt gewinnen kann.
„Veränderung“, „Ecclesia semper reformanda“ bedeutet für mich die Erneuerung einer Kirche, die auf dem Boden des Evangeliums in die Realitäten der Gesellschaft hineinsprechen kann und so auf Fragen eingeht, die die Menschen beschäftigen. Es geht um innovatives Handeln, das heißt herauszufinden, was Gott heute tun möchte.

„Qualität“ sehe ich im Zusammenhang mit einem besseren Leben. Wo Christus ist, wo Reich Gottes Ereignis wird, haben die Menschen – auch die, die nicht glauben – ein besseres Leben. Ich denke, Westeuropa, die soziale Marktwirtschaft – der Humanismus – sind ein trefflicher und historischer Beweis dafür, dass Dinge, die aus dem Evangelium kommen, dem Menschen positive Veränderung bringen. Aber diese Veränderung kommt nicht zufälligerweise, sie kommt aufgrund einer tiefen Absicht und dem tiefen Bewusstsein, dass christliche Ethik immer den Wunsch nach einem besseren Leben nach sich zieht.

In diesen Veränderungen bringen nicht einige wenige die Lösung, sondern immer eine Mehrheit. Es braucht Teams. Nur die Vielfalt bringt Kreativität hervor.

Eines meiner Lieblingsbücher ist „Einheit in Vielfalt“ von Oscar Cullmann. In ihm schreibt er „Einheit erfordert Vielfalt“ sowie „Einheit ohne Vielfalt ist Uniformität“.  Uniformität ist der Feind von Kreativität und Vielfalt.
Die Unterschiedlichkeit der Menschen, auch die Unterschiedlichkeit der Kirchen, ist keine Bedrohung. Sie ist kein notwendiger Grund für Abgrenzung. Vielmehr ist sie ein Zeichen der Unterschiedlichkeit der Charismen. Wo sich diese begegnen wird Einheit möglich. Vielfalt ist also ein Ausdruck tiefsten Lebens, dass in der richtigen Haltung zur Einheit führt.

In der Auseinandersetzung mit der Gemeinde der Zukunft fällt auf, dass wir in einer Zeit der schnellen Gewinne, der quick wins leben. Allerdings ist Veränderung der Gesellschaft, von Menschen, Gemeinden und Ländern, immer ein längerer Prozess. Diese verändern sich nicht über Nacht. Wir müssen lernen in kleinen Schritten, mit den Augen fixiert auf Jesus Christus, vorwärts zu gehen um ein ansteckendes Christsein zu leben, das andere nicht nur zum Glauben hinzieht, sondern auch andere Christen mit einem neuen Enthusiasmus ansteckt.
 
Das UND gehört mit Radikaler Balance untrennbar zusammen. Wie erlebst Du dies in Deiner Verantwortung für die Vineyard?
 
Radikale Balance ist für mich in der Führung der Bewegung ein Hauptthema. Wie gut gelingt es uns, unterschiedliche Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Begabungen in versöhnlicher Art zusammenzubringen? Können sich die Leitungsteams mit ihren Begabungen und Persönlichkeiten ergänzen? Wir wollen die unterschiedlichen Menschen in radikaler Balance mitnehmen und so das vielgestaltige Wesen Jesu berücksichtigen.
Aber auch das Suchen der Radikalen Balance zwischen Wortbezogenheit, Geistorientierung und sozialen Engagement ist für mich zentral. Oder reicht eines dieser „Extreme“ als Berufung einer Gemeinde aus? Dem möchte ich noch sehr viel länger nachgehen.
 
Als Charta haben wir Werte formuliert, die uns sehr relevant erscheinen. Aber eine Charta ist Theorie, die ins Leben kommen muss. Was fordert Dich heraus?
 
Wie können wir Menschen helfen, Gottes Stimme zu hören? Und wie können wir Gemeinschaft ohne Kontrolle leben? Ich möchte Menschen ermutigen, gegenüber der Stimme Gottes treu zu sein und ihr ganzes Leben einzusetzen, damit Gottes Absichten durch ihr Leben sichtbar werden. Für mich bedeutet das auch immer wieder darüber zu predigen, was der Kurs der Gemeinde ist, wohin die Fahrt geht: The sign on the bus. Unverkrampft sage ich ihnen, dass man auch aussteigen darf, wenn der Kurs der Gemeinde in eine Richtung geht, der nicht der persönliche Kurs ist.
 
In unserer Charta schreiben wir „Gegensätze lieben lernen“. Du sprichst zu Beginn unseres Interviews von „Einheit durch Vielfalt“. Aber Menschen, die sich einen anderen Kurs des „Busses“ wünschen, ermutigst du auszusteigen?
 
Ich habe eine ambivalente Beziehung zu Freikirchen. Ich finde es äußerst herausfordernd, dass durch Glaubensverteidigung die Abgrenzung von anderen definiert wird. Auf die Frage „Was glaubst du?“, erhalte ich die Antwort „nicht das Gleiche, wie du“.  Das ist für mich nicht nur schmerzhaft, das ist furchtbar.

Auch beobachte ich, dass sich viele Freikirchen eschatologisch aufstellen. Diese Eschatologie (Lehre von den letzten Dingen / von der Endzeit, Anm. d. Red.)) führt dann zu Konstrukten, die nicht Christus in seiner Lebens-, Leidens-, Todes- und Auferstehungskraft wahrnehmen. Dies führt aus meiner Sicht zu weltfremden Gemeinden, in der die Menschen nicht mehr für ihr Umfeld nachvollziehbar leben. Oder ich tue mich schwer mit der vereinfachten Moralethik der Freikirchen, wie auch mit der vollständig liberalen Ethik der Ev. Kirchen. Hier wird alles auf Themen reduziert wie Homosexualität, Evolution, Abtreibung usw. Das würgt mich ab und nimmt mir den Atem. Das Hinwenden Gottes zu den Menschen wird um 180 Grad gedreht – Gemeinden wenden sich von allem Bösen ab. Menschen, die eine Gemeinde suchen, die diese Themen und Werte betont, dürfen gerne Teil dieser Gemeinden sein. Sie ermutige ich „aus dem Bus zu steigen“, immer mit dem Wissen, dass „unser Bus“ nicht der einzige ist, der in die richtige Richtung unterwegs ist.

Das Evangelium ist für den Menschen. Daher brauchen wir die Fähigkeit, dem Menschen hingewandt zu denken.
 
Aber auch bei Vineyard gibt es doch sicher viele Menschen, die mit der Komplexität überfordert sind, die sich einen einfachen Glauben und klare Antworten wünschen?
 
Ich nehme die einzelnen Vineyards sehr positiv in diesen Fragen wahr. Über weite Strecken existiert eine große Offenheit, sich den Fragen zu stellen und nicht vorschnell Antworten zu geben. So gab es in einer Vineyard eine Predigt zu Homosexualität, in der nur Fragen aufgeworfen wurden.
Persönlich habe ich Leiter ermutigt, unmögliche Experimente zu machen.
 
Gerade Leiter mit viel Erfahrung sollten einmal etwas ganz Neues versuchen. Ich wünsche mir Modelle, die überzeichnet sind, die anders sind und von denen nach ein paar Jahren niemand mehr redet. Nur so können wir lernen und Bewegung bleiben.
 
Wir können als Natürliche Gemeindeentwicklung eine Charta formulieren, die wir nicht in einer Gemeinde umsetzen wollen, sondern mit der wir inspirieren und zum Weiterdenken anregen. Wir können von der Mitte ausgehen, uns bewusst nicht abgrenzen … Wo ist es für eine Bewegung nötig, sich abzugrenzen um zu bestehen?
 
Ich erlebe ein Leitungsteam mit einer sehr starken radikalen Balance, also sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. In diesem kostet es viel Zeit und Kraft, die Balance aufrechtzuerhalten. Alles dreht sich im Kreis. Besonders eine kritische Person frisst alles auf. Radikale Balance ohne einander zugewandte Herzenszerbrochenheit geht nicht. Rechthaberei verhindert, dass die Spannungen fruchtbar werden. In solche Situationen muss entschieden werden, um den Konflikt zu lösen, vielleicht auch indem man sich trennt. Das sind schwierige Prozesse. Aber alles, was mehr Energie braucht als es gibt, ist nicht länger förderlich. Ich habe die Stärke der Geduld. Ich habe die Schwäche der Geduld. – Ich warte zu lange, bis ich entscheide. Daher brauche ich ein Team, das mich schiebt.
 
Kann ich noch einen Schlusssatz bekommen, was für Dich unsere Charta bedeutet?
 
Diese NGE-Charta ermutigt, den vielgestaltigen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Herausforderungen des heutigen Lebens zu begegnen und eine Stimme zu haben, die zum Guten in der Welt beiträgt.

Das Interview führte Oliver Schippers 

Zum Weiterlesen: Gedanken zu gegenwärtigen politischen Entwicklungen in Europa und den USA (von Martin Bühlmann)

Die Bilder mit Martin Bühlmann wurden uns von ihm zur Verfügung gestellt.

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ViSdPR: Pfn. Birgit  Dierks (Vorstand)

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