zur Ausgabe 11-2016
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Das-UND-Prinzip leben


Gegensätze lieben lernen: Diversity-Übungen für Gemeinden? 

Lydia Schubert, Kreisfachreferentin für die Arbeit mit Ehrenamtlichen im Kirchenkreis Merseburg, im Interview zur Charta der Natürlichen Gemeindeentwicklung mit Oliver Schippers.

Lydia Schubert ist 31 Jahre alt, sie hat Kunstgeschichte und Kulturwissenschaften studiert und kennt Kirche aus der Sicht als Tochter eines Pfarrers und durch ihr ehrenamtliches Engagement in vielen Bereichen kirchlicher Arbeit.
Ich habe ihr einen Entwurf unserer NGE-Charta gesendet und ein sehr interessantes Feedback erhalten: „Interessant finde ich, wie dieses Prinzip konkret auf Gemeindeentwicklung bezogen wird. Macht ihr Diversity-Übungen, in denen Gemeindeglieder Toleranz lernen?“   – Für mich Grund genug, Lydia Schubert zu fragen, wie sie das UND-Prinzip persönlich lebt und in ihrem Umfeld fördert.


Du engagierst Dich persönlich gesellschaftlich, besonders zu Fragen eines nachhaltigen Lebensstils. Beruflich arbeitest Du in der Evangelischen Kirche und hast dort mit engagierten Ehrenamtlichen in Kirchengemeinden zu tun. Wenn Du Diversitätsübungen für Gemeindeglieder vorschlägst, frage ich mich, wie Du Gemeinde wahrnimmst. Muss Gemeinde Toleranz, Umgang mit Unterschiedlichkeit und Vielfalt lernen? Oder arbeitest Du nur mit den eher progressiven, veränderungswilligen Menschen in den Gemeinden zusammen?

In meinem Arbeitsfeld kann ich dies noch wenig einschätzen, da bin ich zu kurz dabei. Grundsätzlich arbeite ich mit allen zusammen, die zu unseren Fortbildungen kommen.

Eine Überlegung von mir gemeinsam mit einer Freundin ist, unserem Kirchenvorstand vorzuschlagen, einmal im Monat den Gottesdienst im Krankenhaus zu feiern. Wir würden gern ein Zeichen setzen, dass Gemeinde sich in ihrem Kern – also dem Sonntagsgottesdienst, nicht nur als zusätzliche Andacht – den Menschen zuwendet, die in Not geraten sind. Wenn Menschen gebrechlich werden, vielleicht auch dem Tod entgegensehen, sollte Gemeinde hingehen.

Du hast 31 Jahre Gemeindeerfahrung. "Gegensätze lieben lernen", sich auf gesellschaftliche Fragen einlassen, Umweltthemen in den Blick nehmen – ist dies etwas, was Gemeinden eher schwer fällt oder siehst Du hier Potenziale?

Für gesellschaftliche Themen habe ich mich eher außergemeindlich engagiert, z.B. im Ein-Welt-Netzwerk. Wenn ich Seminare gehalten habe, dann für die Micha-Initiative*, später als Mitarbeiterin an einer Evangelischen Akademie oder zu kirchlichen Veranstaltungen.

Ich kenne schon aus meiner Jugend die Erfahrung, dass ich mich eher in der Schule engagierte und wohlfühlte. Wir haben viel bildende Kunst gemacht, Mode aus Müll und so. (In der Gemeinde habe ich im Jugendchor gesungen und beim Gemeindeblatt mitgemacht.) Auch mein Schwerpunkt als junge Erwachsene lag weniger in der Ortsgemeinde, sondern eher in übergemeindlichen Aktivitäten. Hier konnte ich mich gut einbringen.
So hatte ich lange Zeit nur wenig „klassische“ Gemeindeanbindung. Eher waren christliche Studierendengruppen und später der KFU (Kirchlicher Fernunterricht) meine geistliche Heimat und die Menschen der Gemeinde, in die ich mich einbrachte, haben sich bereits stark für ihr Umfeld engagiert, z.B. in einem Eine-Welt-Laden oder einer Kita.

(*Micha-Initiative: Die Micha-Initiative ist eine weltweite Kampagne, die Christinnen und Christen zum Engagement gegen extreme Armut und für globale Gerechtigkeit begeistern möchte. Sie engagiert sich dafür, dass die Nachhaltigkeitsziele/Sustainable Development Goals - SDGs - der Vereinten Nationen umgesetzt werden.)

Ist es ein Spannungsfeld zwischen den Generationen, wenn Prioritäten gemeindlicher Arbeit unterschiedlich gesetzt werden? Oder steht das Denken in traditionellen Gemeinden den Themen entgegen, die Menschen außerhalb von Kirche bewegen, und es braucht neue Plattformen?

Grundsätzlich bin ich ein Fan von "normaler Gemeinde". Gottesdienste, in denen sich Jung und Alt, der Bach-Liebhaber und die Dota-Kleingeldprinzessin-Mitsängerin treffen, der Hipster und der Neureiche oder Sozialhilfeempfänger, sind wichtig.

Ich selbst brauchte zunächst Abstand, um Gemeinde wieder neu schätzen zu lernen. Von meinen Eltern und in der Kirchengemeinde meiner Kindheit habe ich gelernt, dass Gott mich persönlich meint und anspricht.

In der Evangelischen Studierendengemeinde in Merseburg habe ich dann erlebt, dass man kritisch die Schriften betrachten und gleichzeitig Beziehung mit Gott leben kann. Ich habe erfahren, dass sich das nicht ausschließt. Und dass Glaube immer auch politisch ist.

Zudem habe ich oft die Orte gewechselt, was es erschwerte, Beziehungen zu Menschen in den Gemeinden zu pflegen. Jetzt bin ich hier in Merseburg angekommen. Ich merke, dass ich anders lebe, weniger provisorisch, verbindlicher. Man kennt sich – mit allen Vor- und Nachteilen.

Kirche ist aus meiner Sicht einer der wenigen „Räume“, wo sich noch Generationen und Menschen verschiedener Milieus begegnen (könnten). Das setzt Kompromisse voraus, bspw. bei der Gottesdienstgestaltung. Ein Kompromiss tut allen weh, aber es ist eben auch bspw. für jeden Musikgeschmack etwas dabei.

Dieser notwendige Prozess der Konsensfindung ist ähnlich wie Demokratie lernen: Das Schätzen des Kompromisses (Der Kompromiss ist nicht faul!), das Zusammenkommen der Unterschiede in einem Leib.

Also kurz: Spannungen zeichnen Gemeinden aus und gerade solche spannungsvollen Räume, in denen sich verschiedene Menschen treffen, sind kostbar.

Höre ich aus der Sehnsucht nach einem gemeinsamen Gottesdienst heraus, dass ein bisschen Gleichmacherei hilfreich wäre? Oder ist die Spannung hilfreich, um neue Formen zu finden, um Gemeinde zwischen den Generationen und mit verschiedenen Kulturen zu leben? Beudeutet für Dich Kompromiss "kleinster Gemeinsamer Nenner" oder auch eine Feier des Gottesdienstes in radikaler Balance der Unterschiede?

Ja, einen Kompromiss finden bedeutet für mich nicht Gleichmacherei. Viel mehr verstehe ich darunter das Ringen um gemeinsame Formen. Verschiedene Geschmäcker und Interessen kommen im Gottesdienst vor, und das nicht in Spezial- und Zielgruppengottesdiensten. Unser "normaler" Gottesdienst sollte eine größere Bandbreite verkörpern.

Was ich persönlich mir am stärksten wünsche, sind nicht moderne Lieder, sondern Stille im Gottesdienst. Es gibt ganz wenig Stille. Kirche ist einer der wenigen öffentlichen Räume, in denen es keine Werbung gibt, kein Handy klingelt ... aber ständig erfolgt Ansprache, viele Worte, Aufforderungen zum Aufstehen und Hinsetzen. Da braucht es mehr Stille!

In Gottesdiensten, die ich gestalte, achte ich auf Ruhe, Konzentration und Momente der Stille. Aber das bin ich. Es gibt andere, die eben gern moderne Lieder singen. Gib du mir fünf Minuten Stille nach der Predigt, dann singen wir auch ein modernes Lied. So ungefähr…

Wenn ich dies in eine Schlagzeile umwandle, dann ist dies "Kirche als Gegenort zur Komplexität in der Welt".

Oh Gott nein! - lacht. Nein!

Beides ergänzt sich; es geht um Mystik und Widerstand, wie es Dorothee Sölle in einem Buchtitel ausgedrückt hat. Das bedeutet nicht Flucht vor der Komplexität der Welt oder Flucht vor den Problemen der Welt, sondern Versenkung angesichts der Probleme der Welt, mittendrin. Wir versenken uns – vor dem Kreuz!

Wow! Was du beschreibst, ist genau das, was wir mit dem UND meinen: Kritisch auf die Schrift schauen UND Beziehung mit Jesus leben; Stille, Reduktion, Kontemplation UND sich der Komplexität vollkommen bewusst bleiben, in mir und um mich herum.

Das ist schön, wenn das von außen so erscheint.

Wenn Du unsere Charta liest. Ist dies etwas nur für Menschen, die gerne reflektieren, aber auch etwas abgehoben und wenig relevant für das eigene Leben?

Ich finde das UND-Prinzip total wichtig und lebensnah! Bin ich bereit, „den Feind“ auch in mir zu sehen? Strukturen seines Denkens, Anklänge seines Handelns auch in mir zu sehen?

In mir entdecke ich auch "PEGIDA"-Anteile, würde gern Menschen ausgrenzen, die andere ausgrenzen, weil es mir wehtut, wenn Menschen, die alles verloren haben und vor Krieg und Terror flüchten, als „Flüchtlingswelle“, die da über uns hereinschwappt, bezeichnet werden.

Björn Höcke habe ich Anfang des Jahres bei einer Demo sprechen hören. Da tut Demokratie weh, wirklich. Und gerade dann spüre ich, wie ich eben auch gern ausgrenzen würde, Björn Höcke nämlich. Ich spüre, dass die Grenze nicht nur zwischen den Menschen verläuft, sondern auch in uns. Ich glaube, dass unser Glaube uns dabei hilft, damit umzugehen. In unserer Gebrochenheit sind wir angenommen: Wir können uns dem dadurch stärker stellen. Nicht nur die anderen denken eindimensional, sondern auch ich selbst. Da möchte ich, dass das UND zu einer Lebenseinstellung wird.

Wenn man sich auf eine Seite beschränkt, beschränkt man notgedrungen die Welt um sich herum, die eigene Weltsicht. Dies aufzubrechen ist eine Verantwortung von Gemeinde. Hier gibt es nicht nur "Die" und "Wir", "Uns" und die "Anderen", "Einerseits" und "Andererseits". Immer gibt es "Sowohl als auch". Ein offenes Wir beschreibt das Bild der Gemeinde als Körper des Messias.

Darüber gilt es nachzudenken – auch was das für Gemeinde heißen kann.
Das bedeutet nicht, keine klare Grundhaltung zu vertreten. Ich freue mich über den interreligiösen Dialog (bspw. über die muslimische Krankenhausseelsorgerin, die ich kennenlernen durfte), ich gebe Deutschunterricht, ich bin auch auf NoLegida-Demos gegangen. Und ich glaube, dass wir auf einer Kugel (Erde) miteinander leben lernen müssen und dass wir als offene Gesellschaft mehr Chancen haben. Und es bedeutet tatsächlich, immer wieder für Vielfalt einzutreten – eben weil alle zum Leib gehören können. Aber es bedeutet auch, nicht von oben herab auf andere zu blicken – weder auf Geflüchtete noch auf AfDler – und offen zu bleiben für Begegnung. Das ist total schwer.

Auf welche Weise setzt du dies "Gegensätze lieben lernen" um? In der Theorie klingt das super, aber was bedeutet dies für die letzte oder die nächste Woche?

Zehn Sekunden Schweigen.

Dieses Schubladendenken, das Eindimensionale in mir wird deutlich, wenn ich an den Beginn mit meinem Freund denke. Ich war lange felsenfest überzeugt, dass das mit uns nie etwas werden könne, dass wir lediglich gute Freunde bleiben. Er engagiert sich in einer Partei, die ich nicht (mehr) wähle und er arbeitet in einem Amt. Das war so entgegen meiner Vorstellung. Ich lebe ein freieres Leben, frei im Sinne meiner prozentualen Anstellung, anderen Projekten nebenher, keinen geregelten Arbeitszeiten. Aus meiner Sicht hatten wir vollkommen gegensätzliche Lebensentwürfe.

Heute fühle ich mich erinnert an "Stolz und Vorurteil", eine Einteilung der Welt, in der man nicht mehr offen ist für Begegnung, in der man sich Vorurteile nicht mehr korrigieren lässt, in der man keine Aha-Effekte mehr erlebt. Hier hat mir eine Freundin durch ihre Ermutigung geholfen, mein Schubladendenken in Frage zu stellen.

Ich brauche andere, die mir mehrere Chancen der Wahrnehmung geben. Heute bin ich sehr froh, dass mein Freund sich damals nicht abschrecken ließ. Und so hoffe ich auch, dass ich anderen zu Überraschungsmomenten verhelfen kann.

Wenn Du unsere Charta liest. Was würdest Du uns noch gerne mitgeben?

Wesentlich ist die Gnade mit sich selbst und mit den anderen: Nicht nur die anderen grenzen aus, auch ich grenze aus. Nicht nur die anderen irren sich, auch ich irre mich. Das bedeutet nicht, keine Überzeugungen zu haben. Natürlich gibt es unterschiedliche “Grundausrichtungen” des Lebens. Aber es gibt eben auch ähnliche Erfahrungen (Erleben von Scheitern, von Ausgrenzung, von Fremdsein), die Empathie ermöglichen. Damit können wir Hassbotschaften, z.B. im Internet, etwas entgegensetzen.

Das Interview führte Oliver Schippers 

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Herausgeber:

Verein für Natürliche Gemeindeentwicklung e.V. 

Geschäftsstelle:
Bärner  Str. 12, 35394 Gießen
E-Mail: buero@nge-verein.de

ViSdPR: Pfn. Birgit  Dierks (Vorstand)

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