In unserer Gemeinde lehren wir dies und starten Projekte.
Eines ist aktuell "Tischlein deck dich". Jeden Sonntag
bringen einige Gemeindeglieder Essen mit. Andere kommen
dazu und so entsteht ein miteinander, zu dem 20-50 Menschen
bleiben, die nicht wissen, wohin nach der "guten Predigt";
Menschen die einfach mal in den Arm genommen werden wollen,
sich über eine Tasse Kaffee freuen oder mit jemanden
Essen möchten.
In der Wintersaison ist das Freizeitheim normalerweise
geschlossen. Letzten Winter haben wir für 3 ½ Monate
muslimische Flüchtlingsfamilien (ca. 60 Personen)
aufgenommen. Das war eine sehr wertvolle Erfahrung. Eine
Sammelunterkunft und eine Kirche in einem Gebäudekomplex! Es
gab sehr viele interessante Begegnungen und Begleitungen, die
noch anhalten. Teilweise sind sogar Freundschaften
entstanden..
Für neu zum Glauben
gekommen Menschen ist es oftmals viel einleuchtender, dass
das Engagement für andere zum Glauben
gehört. Einer unserer neuen Gemeindeglieder hat
z.B. begonnen, ganz bewusst an Menschen zu vermieten, die
sonst keine Wohnung finden, die z.B. aus Therapien kommen.
Dies versuchen wir zu fördern.
Inwieweit führt dich komplementäres Denken, Gegensätze
lieben lernen, persönlich an Grenzen? Schlichtheit,
Einfachheit im Glauben auf der einen Seite UND theologische
Reflexion ...
Schlicht und einfach zu
glauben und auf der anderen Seite das Ganze gut durchzudenken
ist wirklich eine große Spannung. Manchmal habe ich den
Eindruck, dass durch mein Abwägen Dynamik verloren geht.
Manche sagen dann zu mir, heute hat der Herr Professor
gepredigt, alles richtig, abgestützt, alles ausgewogen, gut
untermauert – aber da fehlt der Drive; alles über Bord werfen
und nach vorne gehen. Hier fühle ich mich auf einem Weg,
bewusst einseitig zu lehren und zu predigen. Dennoch schätze
ich das "UND". Dies bewahrt vor Einseitigkeit, vor dem
Verrennen in eine Richtung. Wenn ich dieses "UND" im
Hinterkopf habe, dann darf ich bewusst einseitig sein und
konsequent in eine Richtung gehen.
Persönlich helfen mir jährliche Schweige-Exerzitien. Mein
Gebet wurde so immer mehr zu einem Schweigen vor Gott. Das ist
für mich sehr wertvoll. Aber irgendwann fragte ich mich, wie
kommt das Gott wohl vor, wenn ich jeden Tag eine
halbe Stunde schweige? Bei meinen diesjährigen
Schweige-Exerzitien in einem Benediktiner-Kloster wurde in
mir eine Sehnsucht geweckt: "Herr, tu meine Lippen auf,
dass mein Mund deinen Ruhm verkündige." (Ps. 51,17) Meine
Gebetszeiten beginnen wieder mit Gotteslob, einfach sagen
"Gott ist gut". Mit dem Schweigen war ich einseitig. Und jetzt
entdecke ich das schlichte Gotteslob.
Ist dies nicht "Radikaler Balance": Radikal eine Sache
leben um dann ganz bewusst die andere Seite und Richtung zu
integrieren?
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Radikale
Balance bedeutet, radikal zu schweigen (was auch
Gotteslob sein kann), radikal Gott zu loben – wenn man mal
diese beiden Dinge als Gegenüber sieht.
Funktioniert Radikale
Balance, indem man beides radikal umsetzt? Oder gilt "alles
hat seine Zeit" im Sinne der Sprüche? Lachen, weinen, lieben,
hassen ... alles hat, im Sinne von Kairos, seine Zeit. Ich
ermutige radikal zu Einseitigkeit: einseitig bewusst leben.
Dann aber den Zeitpunkt nicht verpennen, weiterzuziehen und
die andere Seite zu leben!
Wenn radikale Balance bedeutet, konsequent ausgewogen zu
leben, bin ich mir nicht sicher, ob dies funktioniert. Es
braucht Lebensabschnitte, in denen ich radikal einseitig
lebe, auf die Schnauze fliege, um dann radikal die andere
Seite zu entdecken.
Für das persönliche Leben gilt dies sicher. Radikale
Balance ist nicht zeitgleich zu leben. Aber für dich als
Pastor musst du Menschen in diesen unterschiedlichen Phasen in
einer Gemeinde integrieren. Wie gelingt dies dir als Mensch
und Pastor?
Es stimmt, ich muss es
leben und ich muss es lehren. Und in der Gemeinde gibt es
Menschen, den man sagen müsste, für dich wäre es ist gut ins
Schweigen einzutauchen, für andere wäre es gut, Loblieder zu
singen, um bei dem Beispiel "Schweigen und Loben" zu bleiben.
Oftmals kommt die Botschaft bei den Falschen an. Wer
schweigt, schweigt dann weiter ... Hier versuchen wir, durch
unterschiedliche Angebote Vielfalt zu schaffen. So haben wir
einen Tiefgänger-Kurs, der das UND, das komplementäre Denken
besonders aufgreift. Dazu kommt persönliche Begleitung. Mir
ist wichtig, in der Gemeinde eine Kultur zu schaffen, die
akzeptiert, ich darf so sein, ich darf bleiben und ich darf
weiterziehen.
Und ich muss damit leben, dass andere in meiner
Gemeinde ihren Glauben gerade anders ausdrücken ...
... ja, ja. Das sehe ich als eine der größten
Herausforderungen; dass Leute die in der Situation stecken,
das verkraften und Leute, die neu zum Glauben und zur Gemeinde
kommen mit der Breite und Weite konfrontiert werden,
charismatisch Begeisterten zu begegnen und anderen, deren
Glaube im Leid wächst, die wissen Leid und Herrlichkeit
gehören zusammen. – Das für einen neu Glaubenden, der geht
nachhause und denkt, die spinnen alle.
Es ist eine große
Schwierigkeit, dies zusammenzubringen und die Überforderung
einzelner auszuhalten. Da kenne ich keine Lösungen. Ich
kann nur ein Bewusstsein schaffen, dass sich Menschen, die
länger auf der Reise sind, gegenüber neu Bekehrten in ihrer
radikalen Ansicht zurücknehmen. Aber wir erleben, dass an dem
Punkt neu Bekehrte straucheln.
Nur neu Bekehrte? Erwarten nicht viele, dass Gemeinde
ein Ort ist, der sie nicht durch Komplexität überfordert, zur
Ruhe kommen lässt und befähigt, in der komplexen und von
Gegensätzen geprägten Welt zu bestehen. Und nun schreibt die
Natürliche Gemeindeentwicklung in ihre Charta, Gott ist bunt
und Unifomität unnatürlich. Vielfalt soll anerkannt
werden.
Das mach es schwierig für die Leut. Und da frage ich mich,
wie viel für alle gut ist und wie viel Überforderung hilfreich
ist.
Gerade im Bereich der
Spiritualität gibt es das ganz einfache Gegenwort: gegen mein
Gedankenchaos einen Bibelvers. Ich habe Angst, Zukunftssorgen
– der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
Wir wissen aber in der Lehre der Spiritualität, dass hinter
Ängsten oft tiefe Sehnsüchte stecken. Da wäre es reif und
mündig, die Sorgen zuzulassen, zu hinterfragen. Ich trete in
einen inneren Dialog. Ich weise nicht alles von mir, sondern
führe einen inneren Kampf. Und dann noch zu unterscheiden,
welchen Kampf ich in mir führen muss und wo ich die Gedanken
von mir weisen muss, ist die höhere Kunst. Aber nur auf diesem
Weg werden wir reife geistliche Persönlichkeiten. Besser und
schlichter gesagt: reife und weise Menschen.
Menschen in einen reifen Glauben zu führen, sie zu
ermächtigen ihren Weg mit Gott zu finden und sich den tiefen
Frage, Ängsten und Sehnsüchten zu stellen, hier sehe ich
meinen Auftrag. Und da frage ich mich, ob der einfache,
schlichte Glaube wirklich so kompliziert ist, wie es in der
Charta anklingt. Lässt NGE sich hier stärker von der
pluralistischen Weltsicht als von der Bibel prägen?
Kannst du an einem Beispiel illustrieren, wo du anderen
ganz bewusst den Horizont öffnest oder auch eine etwas
simplere Sicht verstärkst?
Ich denke an eine Ehesituation, in der er sehr komplex
denkt, sehr intellektuell reflektiert. Ihn würde die Charta
sofort ansprechen. Seine Frau ist auf ihrer Reise ganz anders.
Mein Eindruck ist, seine komplexe Sichtweise ist Gift in
dieser Situation. Er solle aufhören, umfassend zu reflektieren
und sie solle aufhören, zu proklamieren. Sie sollten einfach
nur leben! Er für seine Frau, sie für ihn; aus dieser Sicht
sich etwas Gutes tun. Wider "besseres Wissen" tue ich ganz
schlicht etwas! Bitte nicht denken, wenn ich ihr Blumen kaufe,
dann verstärke ich sie in ihrer Haltung noch ... es wird
alles so komplex. Meine Botschaft ist, tu deinem Partner ganz
schlicht etwas Gutes.
Das Komplexe ist wichtig. Aber wenn wir nicht das Schlichte
pflegen, geht uns Wesentliches verloren. Ich merke das z.B.
bei Gesprächen mit meiner Frau über die Predigt. Dann erkläre
ich es ihr und sie fragt "was willst du mir damit sagen?" Und
sie ermutigt mich, dies zu sagen und nicht alles so
kompliziert darzustellen.
"Gegensätze lieben lernen" ist ein Kernsatz unserer
Charta. Führt dies zu einer neuen Kultur in unseren
Gemeinden?
Ich definiere Einheit als die Zusammenführung von
Gegensätzen im Sinne der Ergänzung. Ein Beispiel ist für mich
Mann und Frau, anatomisch. Völlig gegensätzlich, aber die
Einheit, die Zusammenführung ist wunderbar. Dabei müssen sich
beide verschenken, der Mann an die Frau, die Frau an den
Mann. Dann wird Sexualität schön. Zusammenführung von
Gegensätze im Sinne der Ergänzung passt super zusammen, dann
macht’s Spaß.
Die Zusammenführung von
Gegensätzen und unterschiedlicher Meinungen im Sinne des
Aufbaus des Leibes, im Sinne von einander Dienen, im Sinne
sich an Gott und die Gemeinde und die Welt zu verschenken – da
sehe ich die Herausforderung. Im Sinne des
Solidaritätsprinzips sehe ich die Herausforderung, dass heute
kaum noch jemand dienen und sich verschenken will und sagt,
ich sehe die Wahrheit, und du siehst die Gnade. Ich benenne
die Dinge, und du rechnest mit der Schwachheit. Und wir dienen
einander und der Gemeinde, verschenken uns mit unserer
unterschiedlichen Denkweise an die Gemeinde.
Das dies nicht passiert, sehe ich als ein Hauptproblem.
Viel wichtiger ist vielen, wie sie ihre mit ihrer Meinung zur
Geltung kommen können, sich mit ihrer Buntheit präsentieren.
Nicht wie kann ich mit meiner Initiative der Gemeinde dienen
und dabei die Bewahrer mitnehmen, damit es gut wird. Ich kann
ja Situationen nur verstehen, wenn ich weiß, wo ich herkomme.
Und ich kann sie nur verändern, wenn ich weiß, wo ich hinwill.
Demut, der Mut zum Dienen, sich verschenken, darin sehe
ich die größte Herausforderung
insgesamt.
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