zur Ausgabe 09-2016
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Das-UND-Prinzip leben


Gott bewegt Menschen, als Christen zu leuchten und zu salzen

Interview mit Dr. Thomas Dauwalter, Pastor der ETG Lindenwiese.

Du hast dich mit unserer Charta – den Werten von NGE beschäftigt. Inwieweit kannst du dich mit diesen Leitsätzen und Gedanken identifizieren?

Grundsätzlich kann ich der Charta zustimmen. Sie atmet viel Weite, sie ist nicht einseitig. Vielfalt und Unterschiedlichkeit müssen wir aushalten, dass wir nicht einseitig werden. Der Bereich der Nachfolge, wie wir ihn in aus unserer Tradition heraus verstehen, hat zu wenig Raum. Wir sagen nicht nur, Jesus ist für meine Sünde gestorben und das wars. Der ganze Weg, den Jesus ging, ist auch unser Weg. Wenn wir die Welt verändern wollen, dann müssen wir diesen Weg gehen. Wer die Krone tragen will, muss immer auch den Querbalken spüren.

In der Charta steht "UND mach die Wahrheit gnädig und gerecht". Hier wie auch in anderen Sätzen fehlt mir der Anspruch, sich nicht nur auf SEINE Lehre und moralischen Forderungen, sondern auf SEIN Leben einzulassen: Ich selber verzichte, ich lebe ganz nahe mit Jesus und komme so zu einem einfachen Glauben.

Die Bergpredigt leben an der Hand vom Bergprediger. (Tilike) - Ich spüre in der NGE-Charta etwas wenig den Geist von Jesus, mit dem ich mein Leben durchschreiten will, wie er es gelebt und nicht nur gelehrt hat.


Ist dies der Aspekt, den andere mit "inkarnatorisch" beschreiben? Gemeinde muss in dieser Welt aufgehen.

Es geht in diese Richtung. Für mich beschreibt dies N. T. Wright, dass der Weg zum Königtum der Weg ans Kreuz ist. Also auf Lammesart kämpfen um den Löwensieg zu erringen. Weil Jesus ans Kreuz ging, hat Gott ihm die Krone verliehen. Und dies bedeutet für uns, hier in der Welt konsequent leben und lieben. Als Christen leben bedeutet sich verschenken, sich hergeben - allerdings nicht profillos.


Ein gutes Beispiel, was wir mit dem UND-Prinzip meinen: sich 100%verschenken, Hingabe leben UND 100% Profil zeigen, also Überzeugung leben. Daher formulieren wir in der Charta, "wir salzen und leuchten als Christen". Für dich scheint die Charta zu wenig mit dem Leben in Nachfolge zu tun haben?

Salz und Licht, das steht im Zusammenhang der Seligpreisungen. Hier wird das Paradox aufgezeigt, selig seid ihr, wenn sie euch verfolgen. In diesem Kontext passt das. Aber der Gesellschaft dienen, indem wir uns als Kontrastgesellschaft engagieren, wird mir noch zu wenig betont.

Für uns als Gemeinden konkret hat dies u.a. zur Folge, die Nutzung unseres Hauses zu überdenken. Wir möchten es so gestalten, dass man hier den ganzen Sonntag verbringen kann. Z.B. ein Mann, dessen Ehe kaputtgeht, kann hier sein um zu essen und mit Menschen zu reden. Seine Kinder können auf dem Spielplatz spielen ... es ist aber auch möglich, hier ein viertel Jahr zu wohnen. Das ist für mich konkret Salz und Licht sein.

In der Mission in der ⅔ Welt ist klar, dass Predigt und Dienen, Herz und Hand zusammengehört. In Deutschland sind wir oft der Überzeugung, Predigen ist das Wichtigste. Wir haben zwar nur wenig finanzielle Armut, aber viele soziale Nöte und Menschen, die isoliert leben. Das in einer Charta allgemein zu formulieren reicht mir nicht. Wie können wir Clandenken in unseren Gemeinden durchbrechen, Wohn-Gemeinschaft fördern ...?


Du bist als Pastor in der Funktion, Menschen herauszufordern, die Theorie zu leben und ihren Glauben in den Alltag zu bekommen. Wie gelingt es Dir, Deine aus meiner Sicht doch recht wortzentrierte Gemeinde zum Umdenken zu bewegen?

Zum einen versuche ich dies durch vorleben. Persönlich nehme ich mir  Zeit, um mit einfachen und schlichten Menschen zusammenzusitzen und zu reden. In unserer Familie haben immer wieder Menschen mitgelebt, oft Menschen, die vom Rand der Gesellschaft kommen. Auch unser Freizeitheim (Anmk.: Freizeitheim und Gemeindezentrum teilen sich einen Gebäudekomplex) bietet viele Möglichkeiten. Und bis heute ist uns wichtig, dass Menschen im Freizeitheim ganzheitlich Hilfe bekommen, hier wohnen, mitarbeiten und Heimat finden. Sie sollen eine Perspektive finden, die ihnen u.a. den Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt ermöglicht.  


In unserer Gemeinde lehren wir dies und starten Projekte. Eines ist aktuell "Tischlein deck dich".  Jeden Sonntag bringen einige Gemeindeglieder Essen mit. Andere kommen dazu und so entsteht ein miteinander, zu dem 20-50 Menschen bleiben, die nicht wissen, wohin nach der "guten Predigt"; Menschen die einfach mal in den Arm genommen werden wollen, sich über eine Tasse Kaffee freuen oder mit jemanden Essen möchten.

In der Wintersaison ist das Freizeitheim normalerweise geschlossen. Letzten Winter haben wir für 3 ½ Monate muslimische Flüchtlingsfamilien  (ca. 60 Personen) aufgenommen. Das war eine sehr wertvolle Erfahrung. Eine Sammelunterkunft und eine Kirche in einem Gebäudekomplex! Es gab sehr viele interessante Begegnungen und Begleitungen, die noch anhalten. Teilweise sind sogar Freundschaften entstanden..

Für neu zum Glauben gekommen Menschen ist es oftmals viel einleuchtender, dass das Engagement für andere zum Glauben gehört.  Einer unserer neuen Gemeindeglieder hat z.B. begonnen, ganz bewusst an Menschen zu vermieten, die sonst keine Wohnung finden, die z.B. aus Therapien kommen. Dies versuchen wir zu fördern.


Inwieweit führt dich komplementäres Denken, Gegensätze lieben lernen, persönlich an Grenzen? Schlichtheit, Einfachheit im Glauben auf der einen Seite UND theologische Reflexion ...

Schlicht und einfach zu glauben und auf der anderen Seite das Ganze gut durchzudenken ist wirklich eine große Spannung. Manchmal habe ich den Eindruck, dass durch mein Abwägen Dynamik verloren geht. Manche sagen dann zu mir, heute hat der Herr Professor gepredigt, alles richtig, abgestützt, alles ausgewogen, gut untermauert – aber da fehlt der Drive; alles über Bord werfen und nach vorne gehen. Hier fühle ich mich auf einem Weg, bewusst einseitig zu lehren und zu predigen. Dennoch schätze ich das "UND". Dies bewahrt vor Einseitigkeit, vor dem Verrennen in eine Richtung. Wenn ich dieses "UND" im Hinterkopf habe, dann darf ich bewusst einseitig sein und konsequent in eine Richtung gehen.

Persönlich helfen mir jährliche Schweige-Exerzitien. Mein Gebet wurde so immer mehr zu einem Schweigen vor Gott. Das ist für mich sehr wertvoll. Aber irgendwann fragte ich mich, wie kommt das Gott wohl vor, wenn ich jeden Tag eine halbe Stunde schweige? Bei meinen diesjährigen Schweige-Exerzitien in einem Benediktiner-Kloster wurde in mir eine Sehnsucht geweckt:  "Herr, tu meine Lippen auf, dass mein Mund deinen Ruhm verkündige." (Ps. 51,17) Meine Gebetszeiten beginnen wieder mit Gotteslob, einfach sagen "Gott ist gut". Mit dem Schweigen war ich einseitig. Und jetzt entdecke ich das schlichte Gotteslob.


Ist dies nicht "Radikaler Balance": Radikal eine Sache leben um dann ganz bewusst die andere Seite und Richtung zu integrieren?

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Radikale Balance bedeutet, radikal zu schweigen (was auch Gotteslob sein kann), radikal Gott zu loben – wenn man mal diese beiden Dinge als Gegenüber sieht.

Funktioniert Radikale Balance, indem man beides radikal umsetzt? Oder gilt "alles hat seine Zeit" im Sinne der Sprüche? Lachen, weinen, lieben, hassen ... alles hat, im Sinne von Kairos, seine Zeit. Ich ermutige radikal zu Einseitigkeit: einseitig bewusst leben. Dann aber den Zeitpunkt nicht verpennen, weiterzuziehen und die andere Seite zu leben!

Wenn radikale Balance bedeutet, konsequent ausgewogen zu leben, bin ich mir nicht sicher, ob dies funktioniert. Es braucht Lebensabschnitte, in denen ich radikal einseitig lebe, auf die Schnauze fliege, um dann radikal die andere Seite zu entdecken.


Für das persönliche Leben gilt dies sicher. Radikale Balance ist nicht zeitgleich zu leben. Aber für dich als Pastor musst du Menschen in diesen unterschiedlichen Phasen in einer Gemeinde integrieren. Wie gelingt dies dir als Mensch und Pastor?

Es stimmt, ich muss es leben und ich muss es lehren. Und in der Gemeinde gibt es Menschen, den man sagen müsste, für dich wäre es ist gut ins Schweigen einzutauchen, für andere wäre es gut, Loblieder zu singen, um bei dem Beispiel "Schweigen und Loben" zu bleiben. Oftmals kommt die Botschaft bei den Falschen an. Wer schweigt, schweigt dann weiter ... Hier versuchen wir, durch unterschiedliche Angebote Vielfalt zu schaffen. So haben wir einen Tiefgänger-Kurs, der das UND, das komplementäre Denken besonders aufgreift. Dazu kommt persönliche Begleitung. Mir ist wichtig, in der Gemeinde eine Kultur zu schaffen, die akzeptiert, ich darf so sein, ich darf bleiben und ich darf weiterziehen.


Und ich muss damit leben, dass andere in meiner Gemeinde ihren Glauben gerade anders ausdrücken ...

... ja, ja. Das sehe ich als eine der größten Herausforderungen; dass Leute die in der Situation stecken, das verkraften und Leute, die neu zum Glauben und zur Gemeinde kommen mit der Breite und Weite konfrontiert werden, charismatisch Begeisterten zu begegnen und anderen, deren Glaube im Leid wächst, die wissen Leid und Herrlichkeit gehören zusammen. – Das für einen neu Glaubenden, der geht nachhause und denkt, die spinnen alle. 

Es ist eine große Schwierigkeit, dies zusammenzubringen und die Überforderung einzelner auszuhalten. Da kenne ich keine Lösungen. Ich kann nur ein Bewusstsein schaffen, dass sich Menschen, die länger auf der Reise sind, gegenüber neu Bekehrten in ihrer radikalen Ansicht zurücknehmen. Aber wir erleben, dass an dem Punkt neu Bekehrte straucheln.


Nur neu Bekehrte? Erwarten nicht viele, dass Gemeinde ein Ort ist, der sie nicht durch Komplexität überfordert, zur Ruhe kommen lässt und befähigt, in der komplexen und von Gegensätzen geprägten Welt zu bestehen. Und nun schreibt die Natürliche Gemeindeentwicklung in ihre Charta, Gott ist bunt und Unifomität unnatürlich. Vielfalt soll anerkannt werden.

Das mach es schwierig für die Leut. Und da frage ich mich, wie viel für alle gut ist und wie viel Überforderung hilfreich ist.

Gerade im Bereich der Spiritualität gibt es das ganz einfache Gegenwort: gegen mein Gedankenchaos einen Bibelvers. Ich habe Angst, Zukunftssorgen – der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.

Wir wissen aber in der Lehre der Spiritualität, dass hinter Ängsten oft tiefe Sehnsüchte stecken. Da wäre es reif und mündig, die Sorgen zuzulassen, zu hinterfragen. Ich trete in einen inneren Dialog. Ich weise nicht alles von mir, sondern führe einen inneren Kampf. Und dann noch zu unterscheiden, welchen Kampf ich in mir führen muss und wo ich die Gedanken von mir weisen muss, ist die höhere Kunst. Aber nur auf diesem Weg werden wir reife geistliche Persönlichkeiten. Besser und schlichter gesagt: reife und weise Menschen.

Menschen in einen reifen Glauben zu führen, sie zu ermächtigen ihren Weg mit Gott zu finden und sich den tiefen Frage, Ängsten und Sehnsüchten zu stellen, hier sehe ich meinen Auftrag. Und da frage ich mich, ob der einfache, schlichte Glaube wirklich so kompliziert ist, wie es in der Charta anklingt. Lässt NGE sich hier stärker von der pluralistischen Weltsicht als von der Bibel prägen?


Kannst du an einem Beispiel illustrieren, wo du anderen ganz bewusst den Horizont öffnest oder auch eine etwas simplere Sicht verstärkst?

Ich denke an eine Ehesituation, in der er sehr komplex denkt, sehr intellektuell reflektiert. Ihn würde die Charta sofort ansprechen. Seine Frau ist auf ihrer Reise ganz anders. Mein Eindruck ist, seine komplexe Sichtweise ist Gift in dieser Situation. Er solle aufhören, umfassend zu reflektieren und sie solle aufhören, zu proklamieren. Sie sollten einfach nur leben! Er für seine Frau, sie für ihn; aus dieser Sicht sich etwas Gutes tun. Wider "besseres Wissen" tue ich ganz schlicht etwas! Bitte nicht denken, wenn ich ihr Blumen kaufe, dann verstärke ich sie in ihrer Haltung noch ... es wird alles so komplex. Meine Botschaft ist, tu deinem Partner ganz schlicht etwas Gutes.

Das Komplexe ist wichtig. Aber wenn wir nicht das Schlichte pflegen, geht uns Wesentliches verloren. Ich merke das z.B. bei Gesprächen mit meiner Frau über die Predigt. Dann erkläre ich es ihr und sie fragt "was willst du mir damit sagen?" Und sie ermutigt mich, dies zu sagen und nicht alles so kompliziert darzustellen.


"Gegensätze lieben lernen" ist ein Kernsatz unserer Charta. Führt dies zu einer neuen Kultur in unseren Gemeinden?

Ich definiere Einheit als die Zusammenführung von Gegensätzen im Sinne der Ergänzung. Ein Beispiel ist für mich Mann und Frau, anatomisch. Völlig gegensätzlich, aber die Einheit, die Zusammenführung ist wunderbar. Dabei müssen sich beide verschenken, der Mann an die Frau, die Frau an den Mann. Dann wird Sexualität schön. Zusammenführung von Gegensätze im Sinne der Ergänzung passt super zusammen, dann macht’s Spaß.

Die Zusammenführung von Gegensätzen und unterschiedlicher Meinungen im Sinne des Aufbaus des Leibes, im Sinne von einander Dienen, im Sinne sich an Gott und die Gemeinde und die Welt zu verschenken – da sehe ich die Herausforderung. Im Sinne des Solidaritätsprinzips sehe ich die Herausforderung, dass heute kaum noch jemand dienen und sich verschenken will und sagt, ich sehe die Wahrheit, und du siehst die Gnade. Ich benenne die Dinge, und du rechnest mit der Schwachheit. Und wir dienen einander und der Gemeinde, verschenken uns mit unserer unterschiedlichen Denkweise an die Gemeinde.

Das dies nicht passiert, sehe ich als ein Hauptproblem. Viel wichtiger ist vielen, wie sie ihre mit ihrer Meinung zur Geltung kommen können, sich mit ihrer Buntheit präsentieren. Nicht wie kann ich mit meiner Initiative der Gemeinde dienen und dabei die Bewahrer mitnehmen, damit es gut wird. Ich kann ja Situationen nur verstehen, wenn ich weiß, wo ich herkomme. Und ich kann sie nur verändern, wenn ich weiß, wo ich hinwill.
Demut, der Mut zum Dienen, sich verschenken, darin sehe ich die größte Herausforderung insgesamt.


Das Interview führte Oliver Schippers 

zur Website der ETG Lindenwiese

Fotos: ETG Lindenwiesezum Newsletter


 


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Herausgeber:

Verein für Natürliche Gemeindeentwicklung e.V. 

Geschäftsstelle:
Bärner  Str. 12, 35394 Gießen
E-Mail: buero@nge-verein.de

ViSdPR: Pfn. Birgit  Dierks (Vorstand)

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