"JETZT" im Neuen Testament

(Christian A. Schwarz)

 

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Gerade habe ich (Christian A. Schwarz, Foto)eine Zeit des Bibelstudiums, in der ich mich intensiv mit dem neutestamentlichen Gebrauch des Wortes "jetzt" beschäftigt habe, abgeschlossen. Dabei habe ich einige für unsere Arbeit folgenreiche Entdeckungen gemacht:

Während das griechische Wort für "jetzt" (νῦν), wie es von vor-neutestamentlichen Philosophen gebraucht wurde, in aller Regel eine Grenzlinie zwischen zwei Zeitabschnitten – Vergangenheit und Zukunft – markiert, kann sich der neutestamentliche Gebrauch von "jetzt" auf einen ganzen Zeitabschnitt beziehen (nämlich die Zeit, in der wir als Christen leben). Die Abbildung stellt den Unterschied des älteren philosophischen Konzepts dem neutestamentlichen Verständnis von "jetzt" gegenüber. Die gesamte christliche Existenz wird von diesem "Jetzt" geprägt, das durch die Überschneidung von Vergangenheit und Zukunft gekennzeichnet ist (Zukunft immer verstanden als vollständige Gestaltwerdung des Reiches Gottes). In dieser Jetzt-Zeit sind die Gesetzmäßigkeiten des neuen Äons bereits im Vollsinne in Kraft, auch wenn sie noch durch die Realitäten des alten Äons überschattet werden. In der Jetzt-Zeit kann die Realität der Vergangenheit nicht ignoriert werden, während die Realität des zukünftigen Reiches Gottes als Orientierungspunkt gilt.

Aufgrund dieses Grundverständnisses ergibt sich eine signifikante Veränderung im semantischen Feld, das im Neuen Testament vom Begriff "jetzt" abgedeckt wird. Die Bedeutung verschiebt sich zunehmend von "in der Gegenwart" zu "in Wirklichkeit". Diese Wirklichkeit wird nicht nur im Lichte empirisch zugänglicher Daten gedeutet, sondern in erster Linie aufgrund des Glaubens an Gottes Gegenwart. Diese Gegenwart wird im "Jetzt" erlebt und ist im Blick auf ein spezifisch christliches Wirklichkeitsverständnis der entscheidende Faktor.

Das neutestamentliche Verständnis von "Jetzt" beinhaltet eine beträchtliche qualitative Dimension, die geradezu als charakteristisch für den christlichen Glauben gesehen werden kann – z.B. im Gegensatz zu Judentum und Hellenismus, die beide (aus jeweils unterschiedlichen Gründen) dem "Jetzt" sehr viel geringere Bedeutung beimessen. Nach neutestamentlichem Verständnis beinhaltet "jetzt" nicht nur einen Zeitabschnitt, sondern eine besondere Qualität: "Jetzt" als "göttliche Stunde", als Begegnung mit Ewigkeit, geprägt von der Verbindung mit Christus. Das wird in 2. Korinther 6,2 in folgende Worte gefasst: "Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!"

Die vom der Überschneidung der beiden Kreise gekennzeichnete Zeit ist die Zeit der Veränderung: nicht länger unter der Sklaverei der Sünde (Römer 6,20; auch 5,8) und der Herrschaft des Gesetzes (Römer 7,1.6), sondern in Gerechtigkeit (Römer 3,21) und Freiheit (Römer 6,22) unter der erneuernden Kraft des Geistes (Römer 7,6). Paulus‘ Lehre über das "Jetzt" ist in diesen Zusammenhängen stets auf die fortwährende Erneuerung des christlichen Lebens bezogen: Die Wirklichkeit des kommenden Reiches (Zukunft) soll zunehmend die gegenwärtige Existenz prägen.

Dieses Konzept des "Jetzt" wird durch die neutestamentliche Lehre des rechten kairos (der "entscheidende Moment" im Gegensatz zur bloßen Zeitdauer, die durch den griechischen Begriff chronos widergegeben wird) noch intensiviert. Gott wählt für seine Zwecke bestimmte Zeiten aus, und es ist unsere Verantwortung, diese Zeiten der Gnade nicht zu verpassen. Jeder kairos konfrontiert uns mit der Herausforderung, mit konkreten Taten die rechten Entscheidungen zu treffen. Paulus benutzt wiederholt einen für ihn typischen Ausdruck für die Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft: "der Jetzt-Kairos" (ὁ νῦν καιρός).

Es ist interessant, dass in vielen Sprachen das Wort für "jetzt" etymologisch auf den gleichen Ursprung zurückgeht, der durch das griechische Konzept geprägt ist: Griechisch νῦν, Deutsch nun, Englisch now, Finnisch nyt, Niederländisch nou, Esperanto nun, Lateinisch nunc, Tschechisch nyní, Dänisch nu, Norwegisch nå, Isländisch nú, etc. Mit anderen Worten: diese wenigen Buchstaben drücken in einer Vielzahl von Sprachen einen sehr ähnlichen Sachverhalt aus. Und sie drücken einen Sachverhalt aus, der für den christlichen Glauben absolut zentral ist, ja, ohne den der christliche Glaube gar nicht recht verstanden werden kann. 

Nachdem im Laufe der Kirchengeschichte die Betonung des "Jetzt" zunehmend abgeschwächt wurde – primär im Sinne einer Vergangenheitsorientierung, sekundär aber auch im Sinne eines einseitigen Fokus auf das Gestalten der Zukunft –, ist es jetzt an der Zeit, diesen Trend umzukehren. 

 

 

Abbildung: Das erste Diagramm stellt das vor-neutestamentliche Verständnis des "Jetzt" dar – eine Linie, die die Vergangenheit von der Zukunft trennt. Genau genommen hat dieses "Jetzt" keinerlei Raum, in dem es Gestalt gewinnen könnte; in dem Moment, da wir es erleben, ist es bereits Teil der Vergangenheit. Nach neutestamentlichem Verständnis (zweites Diagramm) bezieht sich das "Jetzt" auf die Überschneidung von Vergangenheit und Zukunft (gekennzeichnet durch die Erfahrung des Reiches Gottes). "Jetzt" ist die Zeitspanne, in der das Reich bereits gegenwärtig ist, während der Einfluss der Vergangenheit gleichzeitig erlebt wird. Es ist die Zeit der Veränderung.

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