Ausgabe 02-2017
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Das UND-Prinzip leben: Komplexität lieben und leben, es aber nicht kompliziert machen 

Dagmar Begemann im Interview mit Oliver Schippers


Das UND-Prinzip – so kann man unsere Charta der Natürlichen Gemeindeentwicklung in Deutschland zusammenfassen. Wie leben Menschen das UND, was bedeutet es, „wir salzen und leuchten, um die Welt auf den Geschmack Gottes zu bringen“. Im Interview Dagmar Begemann. Sie leitet das Mehrgenerationenhaus  in Lemgo, … (die diakonische „Pfeilspitze“ der Ev. Kirchengemeinde St. Pauli).

Deine Aufgaben als Leiterin des MGH sind sehr vielfältig: Ehrenamtliche motivieren, Mitarbeiter leiten, mit Politikern den Kontakt suchen, … das bedeutet viele unterschiedliche Interessen im Blick haben. Kannst du gut mit den darin liegenden Spannungen umgehen oder wünschst du es dir nicht ab und an etwas einfacher? 

Ich halte mich für jemanden, der gut mit Spannungen umgehen kann. Die möchte ich nicht vereinfachen. Was mich herausfordert ist die Vielsprachigkeit. Ich merke, jede Partei, jede Organisation und jedes Ministerium hat ihren eigenen Sprachgebrauch. Kommunizieren heißt dann, diese jeweilige „Sprache“ zu sprechen. Andernfalls wird man nicht gehört. Durch den Tag zu gehen und diese vielen „Sprachen“ zu sprechen ist nicht immer einfach.


Inwieweit fordert dich unsere Charta heraus? Was sind deine Gedanken, wenn du unsere Werte liest?

Ich spüre, dass ich einen klaren Pol habe. Ich bin jemand, der Dynamik und Veränderung möchte. Das, was ihr mit „Radikaler Balance“ beschreibt, fordert mich heraus. Mich meinen eigenen Gegenpolen stellen, zurücktreten, aus der Bewegung gehen und Geschwindigkeit herausnehmen fällt mir nicht leicht. Aber ich finde es wichtig, zunächst in mir selbst, in meinem Leben die „Radikale Balance“ zu finden.

Mit äußeren Gegenpolen kann ich leichter umgehen. Mit andern kann ich in einen Dialog treten.


Aber ist Dialog mit anderen wirklich die Suche nach „Radikaler Balance“ oder nicht eher das Einigen auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner?

Ich arbeite viel mit Menschen aus anderen Ländern, auch mit Geflüchteten. Am Anfang versucht man, Vertrautheit zu finden. Man merkt jedoch, dass das Fremde immer fremd ist. Wenn Menschen aus vollkommen anderen Umständen kommen und ein ganz anderes Leben führten, merkt man, dass es keinen kleinsten gemeinsamen Nenner gibt; außer dem Menschsein vielleicht und das man gerne isst.

Ich lerne im Umgang mit Menschen, die aus einer komplett anderen Situation wie der meinen kommen, dass Fremde zu lieben. Nicht Vertrautsein suchen, sondern spüren, dass das Fremde fremd bleiben muss, führt zu vollkommen neuen Beziehungen.

Ich versuche weg zu kommen von einem kleinsten gemeinsamen Nenner, denn dann würde das Leben sehr arm.


Braucht es nicht dann Orte, an denen man zur Ruhe kommt, zum Beispiel in der Gemeinde als „Wohlfühlzone“?
 
Dann habe ich mir die falsche Gemeinde ausgesucht. Unsere Gemeinde lebt sehr bewusst diese Spannungsfelder, sie konstruiert diese nicht nur, sie hält sie auch aus.

Ich habe in meinem Leben neben der Gemeinde auch das Thema „Gemeinschaft“ neu entdeckt. Leben teilen mit wenigen Menschen, vielleicht 15. Mit meinem Mann lebe ich in einer Lebensgemeinschaft, das ist unser Ruhepol.
 
Thomas Dauwalter sagte uns im Interview, dass wir in Gemeinden vieles vereinfachen müssen, da Komplexität viele überfordert … Bei dir höre ich es ganz anders.
 
Ich glaube nicht, dass Komplexität Menschen überfordert. Vielmehr ist der Mensch auf Komplexität hin angelegt; jeder Mensch ist komplex. Familien sind komplex, und so leben Menschen von klein auf in komplexen Systemen.
Was Menschen überfordert ist, wenn man es ihnen kompliziert macht: Wenn verschiedene Sprachkulturen aufeinandertreffen, wenn sie nicht mitgenommen werden und ihnen Sachverhalte so vermittelt werden, dass sie verstehbar sind.

Unsere Herausforderung ist, Komplexität zu lieben und zu leben, es aber nicht kompliziert zu machen.


Was ist dabei dein Beitrag? Wie hilfst du in deinem Team, dass es nicht kompliziert wird?
 
© Trueffelpix / fotoliaIch muss noch etwas auf dem Thema „Sprache“ herumreiten. Wir sind ja gerade herausgefordert, Menschen unsere Sprache nahe zu bringen. Dabei merke ich, dass wir eine leichte Sprache finden und Zusammenhänge in leichter Sprache erklären müssen.

Ich bin ein großer Fan von „LOGO“, den Nachrichten für Kinder. Hier werden die komplexesten Sachverhalte für Kinder verständlich erklärt.

Wir sind herausgefordert, Bilder zu finden, die Dinge beschreiben und Ideen in den Köpfen wecken, statt einer technischen Sprache zu kommunizieren, die Menschen nicht mitnimmt.

Hier sehe ich eine große Chance für Gemeinde und für Predigt. Der Meister hat uns deutlich gezeigt, wie es geht: Jesus hat den komplexesten Sachverhalt – das Reich Gottes – in einfachen Bildern beschrieben. Davon können wir viel lernen.

Wir müssen uns hinterfragen inwieweit wir verständlich, inwieweit wir sprachfähig sind.


Lemgo liegt ja nicht auf einem anderen Stern. Begegnest du in deiner Arbeit, insbesondere mit Flüchtlingen, auch denen, die schwarz-weiß denken? Hört dann dein Verständnis für das Andere auf?
 
Ich habe das Problem, dass es mich fasziniert, wenn ich an Grenzen stoße. Ich frage dann, warum ist diese Grenze da? Wenn mein innerer „Pappkamerad“ aufsteht und feststellt, dass etwas nicht mehr geht, beginne ich mich selbst zu hinterfragen, warum? So versuche ich, meine Grenzen zu erweitern.

Natürlich gibt es aber auch viele Begegnungen, die ich noch nicht hatte. So habe ich noch nie mit einem Anhänger der AFD gesprochen. Ich weiß nicht, wie es mir da geht. Aber wünschen würde ich es mir.

Was ich schaffen kann, sind Menschen zusammenzubringen, die sich normalerweise nicht treffen: hochbetagt und jung, Menschen aus anderen Kulturen, der Lipper an sich … In diesen Begegnungen lösen sich Vorurteile auf. Wenn Menschen bereit sind, sich zu begegnen, halten die Mauern nicht stand. – Hier liegt meine Aufgabe, die unseres Hauses und der Gemeinde; Räume schaffen, in denen sich Menschen treffen und kennenlernen, die sich sonst ausschließen würden.


Du bist ja nicht nur Leiterin des MHG, sondern hast auch Aufgaben innerhalb der Kirchengemeinde? Was kannst du hier anregen und beeinflussen?

Diakonie ist die Idee und der Versuch von Gemeinde, mit Menschen zu leben, die noch keinen Zugang zu Kirche, oftmals auch keinen Zugang zum christlichen Glauben haben. Wir sind ein Modell, an dem sich Gemeinde orientiert: Zusammenkommen mehrerer Generationen, Zusammentreffen von Kulturen. Unsere Erfahrungen schwappen in die Gemeinde und beeinflussen deren Aktivitäten. Diakonie wird so zu einem „Labor“, in dem man Dinge versuchen kann, die Gemeinde weiterführt. Dabei muss aber Gemeinde das eigene Profil behalten und kann durchaus auswählen. Gemeinde muss keine diakonische Einrichtung sein und wir müssen keine Gemeinde sein. Wir haben eine Schnittmenge, aber auch unsere Unterschiedlichkeit.

Ich verstehe mich dann oft als jemand, der versucht, unsere Erfahrungen zu übersetzen in eine Sprache, die Gemeinde versteht. Sie hat auch ihre eigene Sprache, ihre Bilder und eigenen Worte.


Wenn du an Gemeinde denkst, sind das eher diejenigen, die sich engagieren, auch die „Nur-Gottesdienstbesucher“ oder doch alle Kirchenmitglieder?

Am meisten faszinieren mich in der Gemeinde die Hochbetagten, also die Menschen jenseits der achtzig. Die versuche ich immer wieder für Aufgaben zu gewinnen. Dies sind die besten Menschen auf dem Planeten: Sie haben keine Zukunft mehr. Sie haben eine große Gelassenheit, gerade wenn es um die Probleme im hier und jetzt geht. Es ist ein riesiger Schatz und Reichtum, wenn einem die alltäglichen Dinge nicht mehr so viel angehen. Dadurch haben sie eine ganz andere Perspektive, die Gemeinde bereichert. Es ist eine Perspektive, die so Vereine und andere Organisationen nicht haben, weil man in diesen aktiv sein muss. So lasse ich mich gerne in Gemeindekreise der Alten einladen.

Wir haben auch einige Frauen 70-plus, die sich in der Arbeit mit Flüchtlingen engagieren. Sie haben zum Teil eine eigene Fluchtgeschichte, von der wir heute profitieren.


Welche Frage habe ich dir nicht gestellt?
 
Ich glaube das faszinierende an unserem Glauben ist, dass Komplexität in dem ureigenen und einzigartigen Dogma der Christenheit, der Trinität festgelegt ist. Wir müssen neu entdecken, welche Möglichkeiten wir in unserem Glauben haben um Gesellschaft von heute zu gestalten. Die Herausforderungen in denen wir stehen sind für uns gemacht. Ich glaube an das Potenzial von Kirche, an das Potenzial unseres Glaubens mitten in dieser Zeit; in einer Zeit, in der es um Abgrenzung, Abschottung und um Zerfall geht, letztlich einen Gegenakzent zu setzen. Und hier haben wir noch nicht alles genutzt. Diakonie ist eine Möglichkeit. Daneben gibt es noch tausend weitere Möglichkeiten, die Kirche nutzen kann. Ich wünsche mir einen Aufbruch, der kreativ sagt, jawohl – wir sind für diese Zeit gemacht!


Zum Weiterdenken:

Trinität – Was soll das?
Ein Vortrag von Prof. Siegfried Zimmer zur Trinität

Zimmer nimmt es mit diesem schwierigen Thema auf und berichtet begeistert von seinen Gesprächen mit muslimischen Studenten an Universitäten in der Türkei und Marokko. Denn dabei wird klar: Die Dreieinigkeit muss Christen und Muslime nicht trennen. Sie lässt sich verstehen, selbst für jene, die sie ablehnen. Lebendig erklärt Zimmer, warum die Dreieinigkeit so einmalig und universell ist. so neu und doch uralt, wo sie in der Bibel schon angekündigt wird, warum sie ohne den Tod Jesu nicht möglich wäre und wie sie das gesamte Denken der Christen über Gott verändert hat.


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